Pavel Feldman
[Stellvertretender Direktor des Instituts für strategische Forschung und Prognose von PFUR, Kandidat der Politikwissenschaft (Doktor), Moskau]
* * * Teil 1/4 * * *
Warum ist es einem Menschen wichtig einer bestimmten sozialen Gruppe anzugehören ?
Wenn es um Ideologie, Informationskriege und Propaganda geht, wäre es gut, sich auf ein solides Fundament zu stützen. Als solide Grundlage für unser heutiges Gespräch werden uns die Werke und Ideen des großen Aristoteles dienen — des Aristoteles, der sehr übersichtlich, kurz und sehr präzise ausformulierte, was die Essenz, die Natur des Menschen ist.
Alle erinnern sich sicherlich an seine Worte (die zum Sprichwort wurden) — der Mensch ist ein politisches Wesen. Allerdings gibt es mehrere Übersetzungen vom Altgriechischen. Manche Menschen verwenden lieber das Wort „Tier“ — also, dass der Mensch ein politisches Tier sei — in Wahrheit ist es eine Geschmacksache. Wichtig ist, dass wir ein biosozialer Organismus sind — nicht im vollen Sinne des Wortes ein „Tier“, sondern etwas mehr : Etwas, das spirituelle, psychologische und psychophysiologische Qualitäten hat.
Das Wichtigste für einen Menschen auf seinem langen evolutionären Weg war die Positionierung im Verhältnis zu seinen Gegnern und seinem Rudel.
Warum ? Na weil wir ganz einfach ein schlecht bewaffnetes — verzeihen Sie mir dieses Wort — Tier sind. Wir haben keine starken Zähne, keinen Panzer (wie z.B. eine Schildkröte). Wir haben nicht mal die Fähigkeit uns gut zu verstecken — die haben wir noch vor acht Millionen Jahren verloren. Unsere wichtigste Verteidigung ist die Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft. Manch Einem beliebt sie als „Rudel“ oder „Sozius“ zu bezeichnen — es spielt keine Rolle.
Wichtig ist, dass unsere Verteidigung, unsere Sicherheit direkt von Masse abhängt. Davon, von welcher Schar Gleichgesinnter, die uns beschützen würden, wir umgeben sind. Und in diesem Sinne unterscheiden wir uns selbstverständlich deutlich von Tieren.
Für uns, wie für ein biosoziales Wesen, spielt das Rudelhafte, die Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft, eine sehr viel größere Rolle, als für jedes andere Lebewesen. Deshalb ist es für uns als Vertreter des bio-sozialen Organismus unerlässlich, uns im Verhältnis zu anderen Mitgliedern der Gemeinschaft zu positionieren. Aber wir haben nicht viel Zeit, um zu verstehen, wer vor uns steht — ein ideologischer Verbündeter, ein Freund, ein Feind, eine Bedrohung oder umgekehrt. Wird dieser Mensch zur Verteidigung eilen, wenn wir mit einer gemeinsamen Gefahr zu kämpfen haben ?
Deshalb existiert ja die Idee. Die Idee ist ein Wendepunkt zwischen uns und unseren Gegnern : Menschen, die uns unbekannt sind, die potenziell eine Bedrohung für uns darstellen.
Welche Rolle spielt die Ideologie im Leben der Gesellschaft ?
Ideologie wird allgemein als soziale Religion bezeichnet.
Im Allgemeinen kommt “Religion” vom lateinischen Wort „religare“, d.h. “vereinigen”. Religion ist praktisch identisch mit dem Konzept des Glaubens. Dabei ist der Glaube in seinem religiösen Sinn aus philosophischer und sozialwissenschaftlicher Sicht das Vertrauen in die Quelle, welche man nicht auf Authentizität überprüfen kann.
Man trifft entweder eine Entscheidung zu glauben und stellt keine weiteren Fragen, wirft einen Schatten des Zweifels ab, oder man beschließt daran zu zweifeln, aber dann hat man kein Recht sich als “Gläubiger” im vollen Sinne des Wortes zu bezeichnen.
Ideologie ist eine Art sozialer Glaube, weil sie dich sofort an den Rand der grundlegenden Frage bringt : Glaubst du an diese Ideologie oder nicht ?
Wenn man nicht an diese Ideologie glaubt, kann man nicht in den Teil der Gesellschaft eingebunden sein, der sie teilt. In Erinnerung an Aristoteles, von dem aus wir unser Gespräch begannen, ist der Mensch ein politisches Wesen und die wichtigste Angst eines Menschen aus den frühesten Zeiten der Anthropogenese ist es, allein zu bleiben, das Rudel zu verlieren (denn ein Mensch, der von der Gesellschaft verstoßen wurde, ein Mensch, der von seiner Gesellschaft zurückgelassen und aus irgendeinem Grund aus ihr vertrieben wurde, konnte damals wie heute den Bedrohungen dieser Welt, insbesondere den Raubtieren, nicht widerstehen und war zum Tode verurteilt).
Heute, trotz der Tatsache, dass die Welt viel pflanzenfressender geworden ist, steht jedoch auf der Grundlage unseres Unterbewusstseins tief im Gehirn, tief in unserer sozialen Einstellung und unserem Modell das gleiche Prinzip : Wir wollen uns nicht allein fühlen.
Wir haben Angst uns von der Gesellschaft abgelehnt zu fühlen. Deshalb, wenn wir vor der Frage stehen, ob wir die dominante Ideologie akzeptieren sollen oder nicht, ist es eine Frage der persönlichen Selbsterhaltung. Wir können dieser nur folgen, weil wir uns mit den meisten Menschen verbunden fühlen wollen und somit sicher und geborgen sind.
Tatsächlich spiegelt keine Ideologie das reale Bild der Realität wider — eine Art Utopie. Ideologien zählt man heutzutage im Allgemeinen etwa zehn und dazu leider jedes Konzept, das mit ‑ismus endet : “Maoismus”, “Thatcherismus”, obwohl im wahrsten Sinne des Wortes “Ideologie” eine Art Blick in die Zukunft ist. Eine Art Blick auf die grundlegenden, essenziellen Dinge, durch Anteilnahme an welchem man sich im Verhältnis zu anderen positioniert.
Ideologie ist ein Traum. Das ist in erster Linie ein Traum von der Zukunft. Es ist ein ideales Bild und es ist kein Zufall, dass “Idee” aus dem Altgriechischen genau das bedeutet — das Bild. Dies ist das Bild einer idealen Zukunft, die den dominanten Vorstellungen von Gerechtigkeit und den Vorstellungen davon entspricht, mit welchen Mitteln diese ideale Zukunft, die ideale Gesellschaft aufgebaut werden kann.
[Ende Teil 1/4 “Ideologie”. Pavel Feldman im Interview auf PolitRussia]