Pavel Feld­man

[Stel­lvertre­tender Direk­tor des Insti­tuts für strate­gis­che Forschung und Prog­nose von PFUR, Kan­di­dat der Poli­tik­wis­senschaft (Dok­tor), Moskau]

* * * Teil 3/4 * * *

Wie funktioniert Propaganda im Kontext der Ideologie ?

Wenn es schon um Pro­pa­gan­da geht, ste­ht dieser Begriff in direk­tem Zusam­men­hang mit der Ide­olo­gie. Die Pro­pa­gan­da selb­st ist ein Werkzeug zur Ver­bre­itung der Ideologie.

In unserem Land (red. Rus­s­land) ist über viele Jahre der Sow­jet­zeit die Pro­pa­gan­da der kom­mu­nis­tis­chen oder sozial­is­tis­chen Ide­olo­gie eine staatliche Funk­tion gewe­sen. Der Begriff der Ide­olo­gie wurde in unserem Land so oft geäußert wie in keinem anderen Land der Welt. Vielle­icht nur in Kuba und Chi­na. Deshalb hat­ten viele unser­er Mit­bürg­er, beson­ders in den späten 80er Jahren, Anfang der 90er Jahre eine Allergie auf das Konzept von “Ide­olo­gie” entwickelt.

Wenn wir diesen Begriff heute sagen, vor allem unter der jun­gen Gen­er­a­tion, ruft er über­wiegend Ablehnung her­vor — also eine neg­a­tive Reak­tion, sog­ar ein Erschreck­en. Wenn man sich als Träger ein­er Ide­olo­gie posi­tion­iert, nehmen die anderen einen als einen Predi­ger wahr. Die Leute haben Angst, die Leute denken, dass man ihnen etwas auf- und sie zu etwas zwin­gen wird.

Aber den­noch erfüllt die Pro­pa­gan­da als Funk­tion der Ide­olo­gie die gle­iche Funk­tion — die Gesellschaft in Grup­pen, Teile zu spal­ten ; sie posi­tion­iert ein bes­timmtes Indi­vidu­um in Bezug auf die Massen, was von der Ide­olo­gie als Ganzes gespiegelt wird.

In diesem Zusam­men­hang jam­mern viele natür­lich, sich an die Sow­jet­zeit zu erin­nern und sagen, dass es eine Ide­olo­gie gab und alles klar war. Hinge­gen im mod­er­nen Rus­s­land gibt es zumin­d­est keine staatliche Ideologie.

Unter­stützer der Posi­tion, dass in unserem Land die Staat­side­olo­gie benötigt wird, erwäh­nen die sow­jetis­che Ver­fas­sung (sagen wir, die Ver­fas­sung der UdSSR von 1977) und zeigen mit dem Fin­ger auf einen bes­timmten Punkt in dem geschrieben ste­ht, dass die Führungs- und Leit­funk­tion in der Sow­jet­ge­sellschaft von der Kom­mu­nis­tis­chen Partei wahrgenom­men wer­den sollte. Eine Partei, die bere­its eine Ide­olo­gie in ihrem Namen hat. Und die gle­iche Partei ist der Kern des poli­tis­chen Sys­tems. Das heißt, alle Fra­gen zur Staat­side­olo­gie ver­schwinden. Es wird deut­lich, dass die Ide­olo­gie der Sow­je­tu­nion der Kom­mu­nis­mus ist und, dass die Sow­je­tu­nion zumin­d­est ihr Ziel darin sieht, in die kom­mu­nis­tis­che Gesellschaft einzutreten, wo, wie bekan­nt ist, gilt — von jedem nach seinen Fähigkeit­en (red. ver­lan­gen) und jedem nach seinen Bedürfnis­sen (red. verteilen). Eine Gesellschaft, in der das Pro­le­tari­at die dom­i­nante Klasse sein wird. Eine Gesellschaft in Sorge um einen Arbeiter.

Wenn wir uns die mod­erne Ver­fas­sung anse­hen, die in viel­er­lei Hin­sicht mit dem Gefühl der Allergie gegen die kom­mu­nis­tis­che Ide­olo­gie (die in den 90er Jahren von vie­len Men­schen nicht abge­lassen hat) angenom­men wurde, dann sehen wir tat­säch­lich Punkt 13, in dem klar geschrieben ste­ht, dass in Rus­s­land keine Ide­olo­gie als Staat­side­olo­gie etabliert wer­den kann. Und dann gibt es die bekan­nten Worte über das Prinzip der Mehrparteien­poli­tik, über die Tat­sache, dass keine Partei in der rus­sis­chen Gesellschaft die Rolle der Kom­mu­nis­tis­chen Partei der Sow­je­tu­nion in der UdSSR spie­len kann.

Viele Men­schen glauben, dass Pro­pa­gan­da — der eine Infor­ma­tions­fluss, der aus den Medi­en fließt und rel­e­vante Mate­ri­alien ver­bre­it­et — die Wahrheit in ihrer gewis­sen Real­ität widerspiegelt.

In der Tat, in der Epoche der “Post-Wahrheit”, in ein­er Epoche, in der der tra­di­tionelle Ansatz zur Wahrnehmung der Wahrheit nicht mehr akzept­abel und unangemessen ist, ist nichts so wie es scheint. Es ist wesentlich komplizierter.

Die Pro­pa­gan­da begann ab der Mitte des 20. Jahrhun­derts die Funk­tion der Dif­feren­zierung der Gesellschaft auf „Zuge­hörige“ („Dazuge­hörende“) und „Fremde“ zu erfüllen.

Die heuti­gen Infor­ma­tion­skriege und die staatliche Infor­ma­tion­spoli­tik erfüllen genau die gle­iche Funk­tion. Es ist kein Spiegel­bild der Real­ität, es ist eine Tren­nung zwis­chen deinen „Eige­nen“ und „Anderen“. In diesem Sinne, wenn einige Per­sön­lichkeit­en des öffentlichen Lebens oder sog­ar Wis­senschaftler trau­rig sind, bedauern, dass die Medi­en­ma­te­ri­alien Fak­e­news sind, dass sie von der realen Real­ität los­gelöst sind oder gar der Fan­tasie entsprin­gen, liegen sie falsch.

Diese Mate­ri­alien erfüllen klar und richtig die ihnen zugewiesene Funk­tion : die Aufteilung der Gesellschaft in Zuge­hörige und Fremde nach bes­timmten poli­tis­chen und kul­turellen Codes.

Wenn wir zum Beispiel das Prob­lem der Krim ansprechen und ver­suchen, auf der Grund­lage dieses Wen­depunk­tes zu ver­ste­hen, wer zur rus­sis­chen Gemein­schaft oder zur rus­sis­chen Welt gehört, d.h. einige gemein­same Ansicht­en mit uns teilt und wer zur west­lichen Welt gehört, ist alles sehr einfach.

Wenn man die Wiederan­gliederung der Krim an die Rus­sis­che Föder­a­tion als Annex­ion betra­chtet, dann ist es der west­liche Teil der Welt und sie sind bezüglich dieses The­ma sehr sol­i­darisch. Wenn ein Men­sch seine Zuge­hörigkeit zur west­lichen Welt beweisen will (egal wie er wirk­lich glaubt) wird er weit­er­hin als Mantra “Annex­ion der Krim ; die rus­sis­chen Trup­pen in Don­bass ; die Unter­stützung des bluti­gen Assad-Regimes” und all die anderen Formeln, die vom West­en und unseren Lib­eralen so geliebt wer­den, wieder­holen. Das tun sie, weil sie durch die Wieder­hol­ung dieser Formeln ihre Zuge­hörigkeit zur west­lichen Gemein­schaft beweisen wollen.

Wir beto­nen unsere Zuge­hörigkeit zu ein­er anderen Gemein­schaft, in gewiss­er Weise ein­er alter­na­tiv­en Welt, der post­sow­jetis­chen oder rus­sis­chen Welt, wenn man so will, wieder­holen andere Formeln und posi­tion­ieren uns so als Anti-West­en. Warum ? Weil es für uns wichtig ist, unsere Integrität zu erken­nen ; weil es für uns wichtig ist, unsere Gemein­schaft zu erken­nen ; weil wir uns von unseren Gle­ich­gesin­nten geschützt fühlen wollen.

Übri­gens ist ein Gle­ich­nis sehr inter­es­sant — es kennze­ich­net weit­ge­hend das mod­erne Infor­ma­tions­feld. Eigentlich ist es nicht ein­mal ein Gle­ich­nis, es ist eine Geschichte. Die Ereignisse fan­den 200 Jahre vor der neuen Ära oder vor der Geburt Christi statt (wie es jedem bess­er gefällt, es ist eine Frage des Glaubens und in irgen­deinem Sinne der Ideologie).

Diese Ereignisse fan­den im alten Chi­na statt, im Kön­i­gre­ich Qin und dort hat­te der Kaiser der jew­eili­gen Dynas­tie einen Berater — einen Eunuchen namens Zhao Gao. Dieser eine Zhao Gao beschloss irgend­wann, einen Putsch oder eine far­bige Rev­o­lu­tion zu bege­hen, wie wir jet­zt sagen wür­den. Er musste her­aus­find­en, wer bere­it war, sich mit ihm zu ver­schwören und wer nicht. Wie kon­nte er das machen ?

Zhao Gao erfand eine bril­lante Formel, die noch immer funk­tion­iert. Er brachte an den Hof des Imper­a­tors der Dynas­tie Qin einen Hirsch. So einen echt­en Hirsch, wie auf dem Bild im Biolo­gie-Lehrbuch, mit verzweigtem Geweih. Kon­nte mit keinem anderen Tier ver­wech­selt wer­den. Und er sprach : “Verehrter Kaiser, geehrte Gefol­gsmän­ner, geehrte Leute, die dem Hof des Kaisers nahe ste­hen, vor euch ist ein Pferd.”

Nun, natür­lich spal­tete sich der Hof in zwei Teile. Ein Teil, die Zhao Gao unter­stützten, die ihn für eine unbe­strit­tene Autorität hiel­ten, sagten : „wenn eine so ange­se­hene Per­son denkt, es sei ein Pferd, dann ist es so. Er weiß es bess­er.“ Der andere Teil ärg­erte sich natür­lich darüber und sagte : “Verehrter Kaiser, du wirst getäuscht. Du wirst offenkundig manip­uliert. Vor dir ist kein Pferd, son­dern ein Hirsch. Sieh dir das Geweih an.

Im Laufe mehrerer Jahre, die dieser Geschichte fol­gten, entledigte sich dieser geris­sene Berater Zhao Gao aller Adelige des Kaisers, die sein­erzeit behaupteten, es sei kein Pferd, son­dern ein Hirsch gewe­sen und Zhao Gao selb­st ein geris­sener Manip­u­la­tor. Er schaffte es nicht, eine far­bige Rev­o­lu­tion im Kön­i­gre­ich Qin zu organ­isieren, schaffte es trotz­dem, seine Geg­n­er zu ver­nicht­en, nach­dem er sie ein­deutig namentlich iden­ti­fiziert hatte.

Ide­olo­gie ist also keine Frage der Reflex­ion der Real­ität um uns herum.

Es geht darum, zu welchem Teil der Gesellschaft du dein­er Integrität bewusst bist, wem du ange­hören willst.

Wenn du zu einem bes­timmten Teil der Gesellschaft gehören willst — in der Regel zur Mehrheit, weil wir uns alle am Besten durch die Mehrheit geschützt fühlen -, wirst du die Idee oder Ide­olo­gie teilen, an die sich die Mehrheit hält. Warum ? Nun, wenn man diese Idee nicht teilt, set­zt man sich nicht nur exter­nen, son­dern auch inter­nen Risiken aus. Das wichtig­ste Risiko ist das Risiko, von der Gesellschaft abgelehnt zu wer­den, allein zu bleiben. Und das war die schreck­lich­ste Strafe vor 8 Mil­lio­nen Jahren, der schreck­lich­ste Nacht­traum unser­er geschätzten Vorfahren.

[Ende Teil 3/4 “Ide­olo­gie”. Pavel Feld­man im Inter­view auf PolitRussia]