Pavel Feld­man

[Stel­lvertre­tender Direk­tor des Insti­tuts für strate­gis­che Forschung und Prog­nose von PFUR, Kan­di­dat der Poli­tik­wis­senschaft (Dok­tor), Moskau]

* * * Teil 4/4 * * *

Ist es notwendig, eine Klausel über die Staatsideologie in die Verfassung Russlands aufzunehmen ?

Gut, wir bauen diesen Punkt ein. Wir ken­nen die Liste der beste­hen­den Ide­olo­gien und ihr Spek­trum ist im All­ge­meinen nicht so umfangreich :

  • Es gibt einen Liberalismus.
  • Es gibt den Kommunismus.
  • Es gibt den Faschismus.
  • Es gibt eine Sozialdemokratie.
  • Es gibt den Fem­i­nis­mus, der im gegen­wär­ti­gen Sta­di­um als eine voll­w­er­tige Ide­olo­gie wahrgenom­men wird.
  • Es gibt Konservatismus.
  • Es gibt Nationalismus.

Also was ver­ankern wir als Staat­side­olo­gie der Rus­sis­chen Föder­a­tion in der Verfassung ?

Und an dieser Stelle sind die Leute, die diese Frage stellen, ver­wirrt. Warum ? Weil sie alle zu unter­schiedlichen Spek­tren gehören.

> Der Kom­mu­nist würde gerne den rel­e­van­ten Punkt in der rus­sis­chen Ver­fas­sung fol­gen­der­maßen ver­ankern : Rus­s­land ist ein kom­mu­nis­tis­ch­er Staat, dessen dom­i­nante Staat­side­olo­gie die kom­mu­nis­tis­che Ide­olo­gie oder zumin­d­est die sozial­is­tis­che Ide­olo­gie ist.

> Men­schen mit tra­di­tion­al­is­tis­chen, kon­ser­v­a­tiv­en Ansicht­en, die in der mod­er­nen Gesellschaft vorherrschen, wür­den sich freuen, als Staat­side­olo­gie Rus­s­lands den Kon­ser­vatismus vorzuschreiben. Aber was passiert dann mit den Lib­eralen ? Was wird dann mit den Kom­mu­nis­ten passieren ? Was wird dann mit den Sozialdemokrat­en passieren ?

Aber müssen wir dieses schmerzhafte The­ma in der mod­er­nen Gesellschaft in Rus­s­land, die von vie­len Wider­sprüchen zer­ris­sen ist und sich in ein­er sehr schwieri­gen, dys­funk­tionalen inter­na­tionalen Sit­u­a­tion befind­et, über­haupt angehen ?

Es scheint mir, dass es im Moment nicht notwendig ist, dies zu tun, und die Stärke der Infor­ma­tion­swelle, die die Ver­tikale der Macht herunter rollt, beste­ht im Moment darin, dass Rus­s­land keine spez­i­fis­che Ide­olo­gie anstrebt. Sie will sich nicht in eine ide­ol­o­gis­che Ecke begeben.

Jede Ide­olo­gie ist eine große Ein­schränkung — man muss so han­deln, wie es diese ide­ol­o­gis­che Lehre vorschreibt. Vor allem, wenn man es als einen Vek­tor der Staat­sen­twick­lung bezeichnet.

Heute, nach­dem wir uns auf die kom­mu­nis­tis­che Ide­olo­gie, auf die sozial­is­tis­che Ide­olo­gie, auf die ultra­l­ib­erale Ide­olo­gie konzen­tri­ert haben, sind wir wahrschein­lich nur in ein­er Sache vere­int : dass wir nicht ver­schlafen (und ich möchte jet­zt kein stren­geres Wort benutzen) — den Staat nicht ver­schlafen, unser Land nicht ver­schlafen sollten.

Deshalb set­zt sich heute die kon­ser­v­a­tive Rhetorik durch. Das Prob­lem mit dem Kon­ser­vatismus als Ide­olo­gie ist, dass er nicht aufrechter­hal­ten wer­den kann — das zum Einen.

Und zum Anderen hat jedes Land unter­schiedliche Ansicht­en darüber, was tra­di­tionell ist.

Wenn in den nördlichen und zen­tralen, südlichen Regio­nen Afrikas der Kan­ni­bal­is­mus eine Tra­di­tion für bes­timmte Bewohn­er ist und wenn die Kon­ser­v­a­tiv­en dort gewon­nen hät­ten, hät­ten sie ihn vielle­icht in ihren Ver­fas­sun­gen ver­ankert — dann ver­suchen Sie zu bes­tim­men, was für Europa tra­di­tionell wäre. Sehr unter­schiedlich, sehr bunt, sehr mehrdeutig.

So ist beispiel­sweise der Kon­ser­vatismus aus Sicht der Vere­inigten Staat­en von Ameri­ka das, was Rus­s­land Lib­er­al­is­mus in sein­er rein­sten Form nen­nen würde.

Den­noch ent­stand der Kon­ser­vatismus als Ide­olo­gie nach der großen franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion in Großbri­tan­nien, wo die Gesellschaft noch lange ver­suchte, die tra­di­tion­al­is­tis­chen Fun­da­mente zu bewahren, und der Autor dieser Dok­trin, Edmund Burke, schrieb sein berühmtes Werk “Reflex­ion über die Rev­o­lu­tion in Frankre­ich” als Reak­tion auf diese neue Welle des Lib­er­al­is­mus, des Uni­ver­sal­is­mus, die alle Tra­di­tio­nen, alle Gren­zen, alle Ansicht­en darüber, was akzept­abel, was angemessen und was unange­bracht ist, löschte. Es war eine Welle, die von Frankre­ich in andere europäis­che Län­der rollte und in Großbri­tan­nien auf Wider­stand stieß. Ja, in der Tat, Rus­s­land ist in diesem Sinne ein recht kon­ser­v­a­tives Land, aber das bedeutet nicht, dass wir den Kon­ser­vatismus nicht als Staat­side­olo­gie vorschreiben können.

Worin besteht der Sinn der nationalen Idee ?

Dies ist natür­lich der Stein, an dem viele-viele Speere kaputt gehen in den Stre­it­igkeit­en, die sich in den 90er, in den 2000er Jahren und jet­zt entwick­eln. Vertreter der lib­eralen Gemein­schaft, ein­schließlich auf der Ebene des Estab­lish­ments (auf der Ebene der poli­tis­chen Führung Rus­s­lands durch den Außen­min­is­ter, Her­rn Kozyrev in den 90er Jahren) bracht­en ihre Ansicht­en, ihre Formel vor, so zu sagen, dass Rus­s­land keine nationalen Inter­essen hätte und es nicht klar sei, was ist “nation­al”?

Es gibt eine Art uni­ver­sal­is­tis­che lib­erale Gesellschaft, und das ist das Ende der Geschichte, deren Offen­sive Fran­cis Fukuya­ma verkün­det hat, als sie sich kür­zlich mit Vertretern der rus­sis­chen nicht-sys­temis­chen Oppo­si­tion traf, und ihr nach soll­ten wir alle in diese Gesellschaft ohne Gren­zen gehen.

Lei­der, oder zum Glück, zeigt die Prax­is, dass dies nicht möglich ist.

Und heutzu­tage, wenn viele unser­er Poli­tik­wis­senschaftler und Men­schen, die die staatliche nationale Ide­olo­gie direkt for­mulieren, vorschla­gen, “Putin­is­mus” als solchen zu betra­cht­en. So hat beispiel­sweise Wladis­law Surkow vor einiger Zeit ein recht aus­führlich­es Inter­view zu diesem The­ma geführt.

Um dieses Konzept jedoch klar zu definieren, sollte man immer die Def­i­n­i­tion des Begriffs “Ide­olo­gie” im Hin­terkopf behal­ten. Die Ide­olo­gie ist — wieder ein­mal — das per­fek­te Bild der Zukun­ft. Das ist das Bild der Zukun­ft und das Bild der Werkzeuge und Ressourcen, mit denen diese Zukun­ft aufge­baut wer­den soll.

Jede Ide­olo­gie basiert auf ein­er bes­timmten Dok­trin. Ein­er Dok­trin geschrieben vom Autor der Ide­olo­gie. Es ist ein­fach unmöglich, diese Dok­trin, sowie den Autor dieser oder jen­er Ide­olo­gie, außer Acht zu lassen. Diese Men­schen sind immer im Blick­feld, sie sagen, sie sind Ide­olo­gen, sie posi­tion­ieren sich als Sozial­propheten. Sie glauben, dass nur ihre Ansicht­en kor­rekt sind, und alle anderen Ansicht­en soll­ten abgelehnt werden.

Kom­men wir zum Begriff „Putin­is­mus“, derzeit von anerkan­nten Experten umstrit­ten, von Wladis­law Surkow selb­st jedoch als ein „Life­hack“ beze­ich­net.

Ich würde sagen, es ist ein Hack aller Ideologien.

> Der „Putin­is­mus“ beste­ht darin, die beste­hen­den Ide­olo­gien auf Wider­sprüche fest zu nageln, denn das wichtig­ste poli­tis­che Merk­mal, das Wladimir Wladimirow­itsch Putin eine lange Zeit sein­er Herrschaft sichert, ist der Prag­ma­tismus.

Prag­ma­tismus impliziert keine ide­ol­o­gis­chen Extreme.

In diesem Sinne nagelt er west­liche Poli­tik­er und Poli­tik­wis­senschaftler, Per­sön­lichkeit­en des öffentlichen Lebens und Geistliche sehr gut und deut­lich an den Wider­sprüchen fest.

Warum ? Weil ein Anhänger stark­er ide­ol­o­gis­ch­er Ansicht­en sehr leicht zu hin­ter­fra­gen ist.

Wie ist das zu erre­ichen ? Ganz einfach :

hältst du dich an diese Ideologie ?

Ich halte mich an die Ideologie.

Tust du, was diese Ide­olo­gie sagt ? Glaub­st du, dass die Ide­olo­gie, an die du glaub­st und an die du dich behauptest zu hal­ten, erfol­gre­ich in der Prax­is umge­set­zt wird ?

Wenn Wladimir Putin vom Zusam­men­bruch oder der Krise des Lib­er­al­is­mus als Ide­olo­gie spricht, ist es genau der von Wladis­law Surkow erwäh­nte Tri­umph des „Putin­is­mus“. Er erwis­cht Anhänger extrem lib­eraler Ansicht­en über die objek­tiv vorhan­de­nen Wider­sprüche und Unvol­lkom­men­heit­en, die der lib­eralen Ide­olo­gie innewohnen.

Warum ? Weil der Lib­er­al­is­mus, laut Soros und Karl Pop­per, der Weg zu ein­er offe­nen Gesellschaft ist — ein­er Gesellschaft, die keine Gren­zen ken­nt. Am Beispiel der west­lichen Län­der sehen wir, was eine Gesellschaft ist — die keine Gren­zen kennt.

Wenn diese Gren­zen beseit­igt wer­den, bricht ein Strom von Migranten, ein Strom von mar­gin­al­isierten, anti­sozialen Ele­menten, durch die geöffneten Türen hinein, die sich nicht an die lib­eralen Ansicht­en in diesen Län­dern hal­ten wollen, die die prim­i­tivsten tra­di­tion­al­is­tis­chen Ansicht­en in die west­liche lib­erale Gemein­schaft hinein­brin­gen und sie somit unter­graben und zer­stören. Hier haben wir die Unvol­lkom­men­heit der lib­eralen Ideologie.

Sein­erzeit nagelte Wladimir Putin die Kom­mu­nis­ten, die diesem ortho­dox­en, marx­is­tisch-lenin­is­tis­chen Ansatz fol­gten, an der­ar­ti­gen Wider­sprüchen fest. Somit auch weit­ere Vertreter ander­er radikaler Ide­olo­gien, ganz zu schweigen von ukrainis­chen Nation­al­is­ten und Faschisten.

Die Macht des „Putin­is­mus“ ist also nicht die Ide­olo­gie, son­dern der Life­hack ein­er beson­deren Herrschafts­form, die darin beste­ht, sich nicht auf einen stren­gen Rah­men von Ide­olo­gien zu beschränken, son­dern sit­u­a­tions­be­zo­gen zu han­deln — von jed­er Ide­olo­gie das gesellschaftlich Akzept­able zu übernehmen.

Das ist es, was seine gute prak­tis­che Anwend­barkeit beweist. Dies ist, wie ich noch ein­mal betone, keine Ide­olo­gie, son­dern ein Weg, um poli­tis­che Macht zu verwirklichen.

[Ende des 4‑Teilers “Ide­olo­gie”. Pavel Feld­man im Inter­view auf PolitRussia]